Qualität und Qualitätsmanagement in der Weiterbildung

Gemeinsam mit Paul Reinbacher habe ich einen Beitrag zum Thema Qualitätsmanagement in hochschulischen Weiterbildung verfasst. Erschienen In: „weiter/gedacht hochschul/bildung“ Lebensbegleitendes Lernen an Hochschulen. S. 161- 174. Wien. Facultas 2023.

Das sogenannte Lebenslange Lernen ist in unserer noch immer als „Wissens- gesellschaft“ (Lane 1966) bezeichneten Gesellschaft unerlässlich. In der „Risi- kogesellschaft“ (Beck 1986) ist es darüber hinaus ein Versprechen und eine Drohung zugleich: Wer lebenslänglich lernt, bleibt „fit“ für den Arbeitsmarkt, wer es nicht tut, muss sich die Schuld für sein Versagen selbst zuschreiben. Schließlich machen die Dynamik in der Wirtschaft und in anderen Bereichen der Gesellschaft sowie die zunehmende Differenzierung und Globalisierung einzelner Lebensbereiche die permanente Weiterentwicklung von Wissen und Kompetenzen zur wichtigen Voraussetzung für die individuelle Anpassungs- fähigkeit in der „ökologischen Nische“ (Bateson 1972). Sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich sei es von zentraler Bedeutung, so liest man, Ent- wicklungen durch (mittlerweile eleganter als „lebensbegleitend“ bezeichnetes) Lernen aktiv aufzugreifen oder sogar zu antizipieren.

So wurde im Juli 2011, also etwa 10 Jahre nach der entsprechenden Veröffentlichung vonseiten der Europäischen Kommission, durch die öster- reichische Bundesregierung eine Strategie zum Lebensbegleitenden Lernen (LLL:2020) verabschiedet (DG EAC & DG EMPL 2002; BMUKK et al. 2011). In deren Rahmen hatte man politische Ziele formuliert, die bis zum Jahr 2020 erreicht werden sollten, und von den zehn „Aktionslinien“ zielen Nummer

acht, neun und zehn insbesondere auf das Thema der (akademischen) Weiter- bildung und Qualifikation ab. Diese sollen zur Sicherung der Beschäftigungs- und Wettbewerbsfähigkeit beitragen, die Lebensqualität in einer nachberuf- lichen Lebensphase bereichern und Verfahren unterstützen, die zur Aner- kennung von non-formalen und informell erworbenen Kenntnissen führen.

In dieselbe Ära, also in das erste Jahrzehnt des Millenniums, fällt auch die Gründung der sogenannten Österreichischen Pädagogischen Hochschule als einer neuen und durchaus innovativen Institution. Seit damals hat sich ein neuer Hochschulsektor entwickelt (vgl. z. B. Böheim-Galehr/Allgäuer 2012; Symeonidis 2018; Spiel/Braunsteiner 2019), dem allerdings nach kurzem Aufstieg bereits wieder der (Rück-)Fall droht (vgl. Oberneder 2021). Parallel dazu kam es außerdem zur Etablierung einer neuen Struktur in der Pädago- g*innenbildung, bei der für einzelne Bereiche die verpflichtende Kooperation zwischen junger Pädagogischer Hochschule und altehrwürdiger Universität festgelegt wurde. Damit steigt einerseits die Bekanntheit der Pädagogischen Hochschule an der Schnittstelle zur Universität, andererseits die Bedeutung der Pädagogischen Hochschule an der Schnittstelle zum Schulsystem.

Diese zumindest in Ansätzen erlangte Bekanntheit und anerkannte Bedeutung der Österreichischen Pädagogischen Hochschule als Ort des Lehrens und Lernens sowie vor allem auch des Lehrens des Lernens und des Lernens des Lehrens entspricht ihrer Rolle als Multiplikatorin zur „Bildung der Gesellschaft“ durch die Politik auf einem Umweg über die Pädagogik sowie vor allem auf dem Dienst- und Verwaltungsweg (vgl. Reinbacher 2022a). Dennoch ist die dahinter liegende Idee keine gänzlich neue (vgl. z. B. Lindner 1874).
Sie geht in ihrer jüngsten Form allerdings auf eine Initiative der Unterrichts- ministerin Hilde Hawlicek (1987–1990) und des Unterrichtsministers Rudolf Scholten (1990–1994) zurück, die einen Ausschuss zur Erarbeitung von Emp- fehlungen für eine Neugestaltung der „Qualifikation für pädagogische Berufe“ etablierten, während selbstverständlich bereits ihre Vorgänger*innen (insbe- sondere die Pädagogischen Akademien und die Pädagogischen Institute) für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrer*innen zuständig waren.

Hier der link zur gesamten Publikation https://www.aq.ac.at/de/veranstaltungen/dokumente-jahrestagung_2022/Hochschul_bildung_weiter_gedacht_epdf_V1.pdf?m=1702307993&

Die Sozialdemokratie zwischen Hölle, Fegefeuer und Paradies

Die Suche nach dem SPÖ-Vorsitz gemahnt an Dante Aleghieris „Göttliche Komödie“. Eine Organisation im 21. Jahrhundert braucht eine fundamentale strategische Diskussion über Strukturen, Inhalte und Zielsetzungen.

Dieser Tage dürfen sich wieder einmal viele Politikbeobachter in unserer Medienlandschaft präsentieren. Im Schatten der SPÖ-Spielchen, die einer „Divina Commedia“ gleichen, gibt es Analysen von Experten, von Politikberatern, von Politikwissenschaftern und natürlich von den Granden der SPÖ selbst. In eine Hölle, ein Fegefeuer und das Paradies ist die „Göttliche Komödie“ aufgeteilt und wurde zu einer der bedeutendsten Dichtungen der italienischen Literatur.

So wie Dante Alighieris Meisterwerk schöpft auch die SPÖ in ihrer Frage des Vorsitzes aus allen Bereichen der politischen Machenschaften. Von Chaostagen bis hin zu einer befreienden paradiesischen Neuentwicklung reichen die Kommentare. Gekonnt sinniert man in Diskussionssendungen über die besten Bewerber (es sind 73 an der Zahl), und die einzelnen Lager werden dabei deutlich sichtbar. Zwischen dem Burgenland und Wien ist das Match jedenfalls eröffnet: Pamela Rendi-Wagner und die „Liesinger Partie“ oder Hans Peter Doskozil und seine Komplizen aus dem Burgenland. Und da sind dann noch Traiskirchens Bürgermeister Andreas Babler und weitere 70 Genossen (genau weiß man es nicht), die um die interne Gunst der SPÖ-Mitglieder werben.

Politischer Personenkult

Stärken und Schwächen der einzelnen Personen werden zwischenzeitlich medial gut und gerne öffentlich diskutiert, manchmal eloquent, manchmal holprig, aber sehr häufig peinlich inszeniert. Geht es in der politischen Arbeit etwa um eine obsessive Bewunderung und Verneigung vor einer Person? Ist die Sehnsucht so groß, dass man den Personenkult derart auf die Spitze treibt? Man sollte die Beispiele der ÖVP mit Sebastian Kurz noch trefflich in Erinnerung haben.

Aber schön der Reihe nach: Das Eingreifen in gesellschaftliche Zusammenhänge durch die Politik ist schwieriger geworden, vor allem in Zeiten gesellschaftlicher Komplexität und andauernder Krisen. Die Parteiapparate sind in ihrer Robustheit kaum aus der Ruhe zu bringen. Sie folgen einer Art strategieloser Eigenlogik und provozieren damit häufig die Frage, warum politische Steuerung misslingt. Das ist kein Spezifikum der SPÖ, sondern derzeit eine Hauptagenda der Bundesregierung. Beispiele gäbe es viele, denken wir nur an die so häufig als nicht treffsicher bewerteten Unterstützungsleistungen anlässlich der anhaltenden Inflationsdynamik.

Keine Schuldigen suchen

Zurück zur SPÖ: Als ein neuer Akt im großen sozialdemokratischen Drama wird das abendliche Gespräch im ORF mit dem Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch eingeleitet. Mit bürokratischem Gestus wird uns das interne Parteistatut erklärt. Irgendwie habe man den Prozess der Mitgliederbefragung nicht zu Ende gedacht. Aber man sei bemüht, nun den richtigen Pfad zu finden. Ein Blick durch eine system- und organisationstheoretische Brille würde der SPÖ in dieser Zeit guttun.

Organisationen als soziale Handlungssysteme erzeugen nämlich häufig Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Unsicherheiten. Diese zu managen und zu meistern und daraus gestärkt hervorzugehen, ist Aufgabe der Führung einer Partei. Kurz: Nicht die Suche nach einem oder mehreren Schuldigen wird die Lösung der Probleme sein. Schon der 1998 verstorbene Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann warnte mit seiner organisationssoziologischen Theorie vor Schuldzuweisungen an einzelne Personen. Diese würden von der eigentlichen Quelle des Übels ablenken, die häufig in den dominierenden formalen Strukturen der Organisation lägen.

Wie auch immer die SPÖ die kommenden Wochen meistern möchte, sie wird sich darauf einstellen müssen, eine Art Fegefeuer zu durchschreiten, um ihre gewünschten paradiesischen Zustände zu erreichen. Die Führung würde dabei gut daran tun, zu erkennen, dass eine Organisation im 21. Jahrhundert eine fundamentale strategische Diskussion über Strukturen, Inhalte und Zielsetzungen braucht.

Die Konzepte zur Steuerung und Führung einer zeitgemäßen, modernen Partei sind nicht mehr eindimensional und hierarchisch. Längst geht es nicht mehr um imperialistische Steuerungsfantasien von der Wiener Spitze aus. Vielmehr wird man sich einer lateralen Führungsarbeit bedienen müssen. Selbst, wenn die Symptome erkannt wurden – die Therapie wird aufwendig und schmerzhaft sein. Aber: Die Chance lebt, und Österreich braucht dringend eine vitale Sozialdemokratie. Die Krise könnte als Basis für neue Erkenntnisprozesse dienen, denn der Zustand dieser Krise hat Dinge sichtbar gemacht, die vorher nicht gesehen wurden, weil sie eigentlich selbstverständlich waren.

Der Artikel erschien in der Wiener Zeitung vom 1./2. 4.2023 https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2183508-Die-Sozialdemokratie-zwischen-Hoelle-Fegefeuer-und-Paradies.html

Eine ideologische Debatte

Die Ganztagsschule als bildungspolitisches Brennglas. Kommentar in der Wiener Zeitung gemeinsam mit Paul Reinbacher.

Debatten über die Ganztagsschule sind in Österreich ein unübersichtliches, von parteipolitischen Gräben durchzogenes und vielerorts ideologisch vermintes Gelände. Sie sind für alle Beteiligten anstrengend und einigermaßen ermüdend, denn die Argumente (beziehungsweise teils auch Scheinargumente) sind weitgehend ausgetauscht, wenngleich erfolglos.

Distanzierten Beobachtern verspricht die Diskussion allerdings immerhin insofern noch interessante Einblicke, als sie eine Vielzahl bekannter Problemzonen des Schulsystems gleichsam unter dem Brennglas bündelt: Kaum ein anderes bildungspolitisches Thema macht (vielleicht abgesehen von den Auseinandersetzungen um Gesamtschule und Gymnasium) die Diskrepanzen zwischen den aus unterschiedlichen Perspektiven an die Schule gerichteten Anforderungen, Erwartungen und Wünschen von Schülern, Lehrern und Eltern, Politik und Pädagogik, Wirtschaft und Wissenschaft dermaßen deutlich.

Nur der naive Geist glaubt heute noch, in der Schule könne es einfach um das Lernen und die Entwicklung von Kindern/Jugendlichen im Rahmen des jeweils aktuellen Lehrplans gehen. Eine differenzierte Diagnose sieht demgegenüber, dass die Schule als gesellschaftliche Institution in ein dichtes, teils widersprüchliches Zielsystem eingebettet ist und die Bewältigung der daraus resultierenden Spannungen einen stetigen Balanceakt erfordert: Die Schule soll individuelle Bedürfnisse ebenso wie gesellschaftliche Bedarfe bedienen, sie soll sich an professionellen Werten und an budgetären Wirklichkeiten orientieren, sie soll es allen recht machen und niemandem wehtun.

Der gesamte Kommentar in der Wiener Zeitung. https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2174413-Eine-ideologische-Debatte.html

Zwischen Allmacht, Ohnmacht und macht nix

Erwin Ringel, ein Analytiker der österreichischen Seele, hat Österreich als ein „Land der Neurotiker“ beschrieben. Seine Diagnosen waren unbequem, direkt und für manche verstörend. Die österreichische Seele sei geprägt von Verdrängung und menschlicher Fehlentwicklung.

Nach mehr als 30 Jahren kann es angesagt sein, den Zustand der österreichischen Seele einer Neubewertung zu unterziehen. Vielleicht ließe sich das gewagte Experiment in einem ersten Schritt anhand aktueller innenpolitischer Machenschaften durchführen. Die Zeiten sind ja härter geworden: Die Politik ist in Schwierigkeiten, weil plötzlich die Voraussetzungen in der Gesellschaft nicht mehr vorhanden sind, die bis dahin selbstverständlich waren: ein sicheres und konstantes Umfeld, klare und nachvollziehbare gesellschaftliche Ordnungen.

Der gesamte Artikel in der Wiener Zeitung https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2153873-Zwischen-Allmacht-Ohnmacht-und-macht-nix.html

Die vergessene Pädagogische Hochschule

Seit 2007 entwickelt sich in der tertiären Bildungslandschaft in Österreich ein selbstbewusster neuer Player.

Es sei eine „Liebe auf den zweiten Blick“ gewesen, so fasste die ehemalige Unterrichtsministerin Claudia Schmied ihre Bemühungen zur Weiterentwicklung der Pädagogischen Hochschulen bei einer Festveranstaltung im Jahr 2017 zusammen. Die Pädagogischen Hochschulen hatten zu diesem Zeitpunkt eine zehn Jahre zuvor begonnene Transformation von Pädagogischen Akademien und Instituten in Hochschulen hinter sich gebracht. Aus den insgesamt 54 Einrichtungen resultierten schließlich 14 Pädagogische Hochschulen in Österreich. Seit 2007 entwickelt sich also in der tertiären Bildungslandschaft in Österreich ein selbstbewusster neuer Player. Im Jahr 2012 führte man dann ein neues Dienstrecht für die Lehrenden ein, stärkte die Forschung und professionalisierte die Angebote im Bereich der Fortbildung und der Schulentwicklung. Die Lehrerausbildung wurde überarbeitet und mit zehn Semestern Mindestdauer bis zum Masterabschluss den europäischen Richtlinien angepasst, ja in verschiedenen Bereichen sogar erweitert.

Hier mein Kommentar in der Wiener Zeitung vom 7.6.2022 verlinkt auf researchgate.

https://www.researchgate.net/publication/361136602_Die_vergessene_Padagogische_Hochschule

Link Wiener Zeitung: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2149838-Die-vergessene-Paedagogische-Hochschule.html

Pandemische Realitäten

Corona und das Fremde als Teil unserer Gesellschaft.

Vor beinahe zwei Jahren erfasste die pandemische Realität unsere Gesellschaft. Eine Zäsur, die auch die Stärken des demokratischen Handelns berührt und erschüttert. Eine globale Krise, die keine geografischen Grenzen kennt, aber dennoch jeden Einzelnen betrifft. Menschen werden bedroht und an der Ausübung ihres Berufs behindert, andere wiederum gefeiert, weil die Impfquote im Bezirk auf fast 80 Prozent gestiegen ist. Wissenschaftliche Studien werden falsch interpretiert und für die eigene Argumentation verwendet.

Meine Frisörin, scheinbar einem bewussten Lebensstil folgend, sperrt ihr Geschäft freiwillig, weil sie die Maßnahmen der Regierung nicht mehr mittragen will. Die üblichen Illustrierten in ihrem Salon sind Zeitschriften gewichen, die eine Online-Recherche als rechtsextrem ausweist. Ein freier österreichischer Autor gründet ein Magazin, um darin „wissenschaftliche“ Argumente gegen die Impfung zu publizieren. Demonstranten skandieren vor einem Hort lautstark Anti-Corona-Parolen, weil dort Masken getragen werden, und verängstigen die am Fenster stehenden Kinder. Eine Minderheit besorgter Bürger verbreitet völlig obskure Fakten. Manche fürchten gar, die Impfung könnte beim Küssen auf Ungeimpfte übertragen werden. Die Liste ließe sich schier endlos fortsetzen.

Vieles ist uns also fremd, vieles verstehen wir nicht. Wie können friedliche Bürger gemeinsam mit Rechtsradikalen demonstrieren? Warum sind in einer aufgeklärten liberalen Demokratie antisemitische Codes in so vielen verschwörungsideologischen Kontexten zu finden? All das macht uns Angst, weil wir nicht Teil dieses Fremden sind und auch nicht sein wollen. Und nein, das ist nicht ein Denken in Eliten, sondern notwendige Abgrenzung zu einem grauslichen, demokratiefeindlichen und gefährlichen Verhalten. Und doch müssen wir versuchen, das uns so Fremde zu dekonstruieren und zu verstehen, warum eine postmoderne Gesellschaft diese Giftpfeile ertragen muss; dass es zu einem massenmedial kollabierenden Diskurs kommt, zur Omnipräsenz von Tweets und Postings, die keiner zeitlichen und inhaltlichen Limitierung unterliegen; einer Art stillgelegter Gesellschaft, die sich eine „Auszeit“ nehmen musste; einer unruhigen und destabilisierten Gesellschaft, einer „Bequemlichkeitsgesellschaft“ (Zitat Bildungswissenschafter Paul Reinbacher), einer „Next Society“, wie es einst der Pionier der modernen Managementtheorien, Peter Drucker, formulierte.

Müssen wir aber nicht gleichzeitig die Hoffnung pflegen, dass dies alles ein vorübergehender Zustand ist? Dass es Post-Corona-Zeiten geben wird? Wir müssen uns darauf vorbereiten, das Fremde als eine Einheit unserer Gesellschaft zu sehen, als eine Art distanzierende Form des Miteinanders; dass es, um ein Bild des Soziologen Georg Simmel zu nutzen, nicht um eine Art Wandernden geht, der heute kommt und morgen geht, sondern der bleibt; um jemanden, der mit seinem Denken und Handeln in Relationen und Wechselwirkungen das Fremde in den Modus der Präsenz und des Bearbeitbaren schiebt. Vielleicht würde es uns mit diesem Perspektivenwechsel gelingen, die kognitiven und sozialen Paradoxien der Pandemie zu verstehen. Dies wäre zumindest ein erster Schritt zum Wiedereintritt in eine gesellschaftliche Dialogbereitschaft.

Artikel erschienen in der Wiener Zeitung vom 8.2.2022

https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2137127-Pandemische-Realitaeten.html

Aufstieg und Fall eines Hochschulsektors

Oberneder J. (2021): In: Dorninger C., Nekula K., Schnider A. (Hrsg.). Auf dem Weg zu einer offenen, fairen Gesellschaft. S. 208 – 212. Wien: LIT.

Es sei eine „Liebe auf den zweiten Blick“ gewesen, so fasste Claudia Schmied ihre Bemühungen zur Weiterentwicklung der Pädagogischen Hochschulen bei einer Festveranstaltung im Jahr 2017 zusammen (DerStandard, 2017). Die Pädago­gischen Hochschulen hatten zu diesem Zeitpunkt eine vor zehn Jahren in Kraft getretene Transformation der Pädagogischen Akademien und Institute in Päda­gogische Hochschulen hinter sich gebracht. Aus den insgesamt 54 Einrichtungen resultierten schließlich 14 Hochschulen.

Viel war also geschehen seit 2007. Der Juniorpartner in der tertiären Bil­dungslandschaft entwickelte sich zu einem selbstbewussten Player. Man hatte 2012 ein neues Dienstrecht für die Lehrenden eingeführt, die Forschung gestärkt und die Angebote im Bereich der Fortbildung und der Schulent­wicklung professionalisiert.

Im Jahr 2013 kam es dann zu einem Gesetzesbeschluss, der zur Etablierung der neuen Lehrer*innenbildung in Österreich führte. Unter dem „Claim“ der Educational Governance waren nunmehr Pädagogische Hochschulen verpflich­tet im Bereich der Ausbildung von Sekundar­stufenlehrer*innen mit Universi­täten zu kooperieren. Eine tiefgreifende neue Dynamik war in der Hochschul­landschaft verankert worden: Veränderte Strukturen, veränderte Prozesse und veränderte Entscheidungsgrundlagen mussten berücksichtigt werden. Es entstanden vier regionale Koopera­tionsverbünde, die in Netzwerken organisiert wurden (Oberneder, 2016).

Pressure of Change

Organisationen sind immer Resultat eines immensen gesellschaftlichen Evolutionsschubes (Fuchs, 2009, S. 54). Pädagogische Hochschulen waren demnach in den letzten Jahren einem enormen „Pressure of Change“ ausgesetzt. Schließlich übernahmen sie zunehmend Ver­antwortung für die Akademisierung der pädagogischen Professionen durch forschungs­geleitete und anwendungs­orien­tierte Lehre in der Ausbildung, durch wissenschaftsbasierte und bedarfs­gerechte Angebote in der Fortbildung und durch professionelle Angebote in der Beratung von Schulen (Reinbacher, 2017). Insgesamt entwickelte sich in den Hochschulen ein eigenständiger Modus Operandi zwischen Wissenschaft und Praxis und der dafür notwendigen Steuerung. Ein eigener Hochschulsektor war also „informell“ entstanden, ohne einer explizit formulierten Vision durch das zuständige politische Ressort. System­theoretisch formuliert waren Pädago­gische Hochschulen zu diesem Zeitpunkt einem desorientierten Dilemma ausgesetzt: Dieses leitet sich aus dem zeitlichen Gefälle zwischen tatsächlichen Handlungen und strategischer Zielsetzungen ab. Hochschulen mussten zuerst einmal handeln, um sich dann (selbst) beobachten zu können. Diesem „Acting first and thinking later“ liegt ein selbstreferentieller Steuerungsbegriff eines komplexen sozialen Systems zugrunde. Demnach können sich Organisationen wie Hochschulen operativ nur selbst steuern und sind von außen nur unter ganz spezifischen Bedingungen beeinflussbar (prominent: Willke, 2014, Luhmann, 1989). Diese systemtheoretisch skeptische Steuerungs­perspektive widerspricht aber diametral der hierarchischen bürokratischen Logik, die sich letztlich (noch immer) in der Organisationsform der Pädagogischen Hochschulen in Form einer „Nachgeordneten Dienststelle“ äußert. Dabei ist klar, dass angesichts steigender Komplexität in den Umwelten von Organisationen es zunehmend weniger Planungssicherheit gibt und damit bürokratische Strukturen weitgehend unge­eignet für die Führung und die Weiter­entwicklung einer Expert*innen­organisation wie eine Hochschule sind.

Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt sich unter anderem aus diesen Gründen die Managementforschung mit Themen wie „organizational Learning“, „Process Reengineering“, „Wissensmanagement“, oder etwa mit „agilen“ Methoden des Managements. Fast unbemerkt, aber dafür umso kräftiger, kommt es in den letzten Jahrzehnten jenseits von allen „Managementmethoden“ zu einer Art Wiederentdeckung der Organisation als soziales System (Baecker, 2003, S. 101 ff.). Damit ist gemeint, dass sowohl das Netzwerk der Kommunikationen als auch die jeweils individuell adressierten Mitarbeiter*innen ausschlaggebend für die Effizienz und die erbrachten Leistungen der Organisation sind. Hochschulen operieren also als soziales System nicht trivial (Sensu Heinz v. Foerster) im Sinne einer „wenn-dann“ Logik entsprechend der Vorgaben und Aufgaben durch das zuständige Ressort, sondern die Organisation Hochschule muss als ein komplexes gesellschaftlich vernetztes System beschrieben werden. Damit wird vor allem einer Managementphilosophie Rechnung getragen, die sich jenseits von Rationalität dem Thema Motivation der Mitarbeiter*innen und die in der Organisation notwendige Interaktion Aufmerksamkeit schenkt. Denn weniges demotiviert Mitarbeiter*innen stärker als die Verpflichtung auf Rationalität, wie der Soziologe Dirk Baecker argumenteiert (Baecker ebd.)

Die nachgeordnete Dienststelle als Teil eines Hochschulsektors

Ungeachtet der Tatsache, dass die Pädagogischen Hochschulen in Österreich beispielsweise für ihre Weiterentwicklung zunehmende akademische Diversität benötigen werden, hält das zuständige Ministerium aber strikt an der Struktur der nachgeordneten Dienststelle fest. Dies hat insbesondere in den Bereichen Organisation, Personal und Finanzen eingeschränkte Entscheidungsautonomie zur Folge (Oberneder, 2020, S. 122). Die zaghaften Versuche in Form der Erstellung eines Hochschulentwicklungsplans durch das Bundesministerium für Wis­senschaft, Bildung und Forschung bleiben derzeit in der alltäglichen Praxis noch unbemerkt.

Die Hochschulen müssen also auch in Zukunft entsprechend der hierarchischen Regelungs­dichte der angeordneten Bürokratie konsequent Folge leisten. Dies bedeutet einen völlig eingeschränkten Grad an Autonomie und Ergebnisver­antwortung sowie eine ausgeprägte Kultur der top-down Anweisungen, die sich in einer stark verschriftlichten Kommuni­kationsform äußert. Im operativen Alltag bedeutet dies, dass beispielsweise Personal nur mit einem hochdif­ferenzierten Zustimmungsprozess des Bundesministeriums eingestellt werden kann. Gehaltsprognosen erst nach langwierigen Anrechnungsverfahren von Vor­dienstzeiten abgegeben werden können. Budgetprognosen äußerst schwierig sind, weil die konsequente autonome Verantwortung für ein Globalbudget nicht erteilt wird. Oder aber etwa Kooperationsverträge (auch ohne Geldfluss zwi­schen den Partner*innen) nicht ohne vorherige Prüfung und Zustimmung durch das Bundesministerium abgeschlossen werden können. Die Liste der Beispiele ließe sich lang fortsetzen.

Dysfunktionale Hierarchie

Fest steht: Angesichts der Volatilität und Komplexität moderner Gesellschaften bröckelt die Hege­monie der Hierarchie in Organisationen. Pädagogische Hoch­schulen werden definitiv für die Weiterentwicklung eine neue Organi­sations­form benötigen. Diese wird sich weniger an den Mustern von Befehlen und Anweisungen orientieren, sondern vielmehr an den notwendigen Kooperationen und Interaktionen als zentrale emergente Eigenschaften eines sozialen Systems.

Wenn man eine neue Verantwortung für die Steuerung des gesamten Hoch­schulsektors der Pädagogischen Hochschulen übernehmen will, dann wird man nicht umhinkommen den Übergang von klassischer Steuerung („Government“) zu moderner politischer Steuerung („Governance“) zu vollziehen. Dann bedarf es wohl auch keiner besonderen Begründung, dass Organisationen wie Pädagogische Hochschulen, vor allem im Bereich der systemischen Intelligenz, einen dringenden Handlungsbedarf haben. Kurz: Verbesserte und intelligente Infra- und Supra- Strukturen, Prozesse, die transparent und nachvollziehbar sind und vor allem eine Organisationsform, die mit einem hohen Grad an Autonomie und „Accountability“ ausgestat­tet ist. Denn niemand glaubt doch ernsthaft, dass in Zukunft Pädagogische Hochschulen in der Organisationsform als nachge­ordnete Dienststelle ihre tertiäre akademische Aufgabe für eine nächste Gesellschaft (Baecker, 2003) übernehmen kann. Den zuständigen politischen Entschei­dungsträger*innen müsste ein Eintrag ins Stammbuch erfolgen: Pädagogische Hochschulen sind keine Apparate, keine Schulen, keine Anstalten und auch keine (nicht mehr) Pädagogische Akademien, sondern sie sind komplexe Organisationsdomänen, die auf versuchte Steue­rungseingriffe maximal mit einer Irritation reagieren.

Aufstieg und Fall

Das Hochschulsystem hat sich in Österreich in den letzten Jahren zunehmend differenziert entwickelt. Neben den öffentlichen und privaten Universitäten und den Fachhochschulen wurden die Pädagogischen Hochschulen als vierter Hochschulsektor geschaffen.

Unter dem Begriff der „dritten Mission“ wurde in der jüngsten Vergangenheit speziell im Hochschulsektor der Universitäten eine ambitionierte Modernisierungsagenda geführt. Die angestrebten umfassenden Veränderun­gen wurden durch zahlreiche Überschriften wie „from Goverment to Gover­nance“, „from Teaching to Learning“ oder „from Research to Innovation“ bekundet (Pausits, 2013, S. 42). Etwas oberflächlich zusammengefasst, könnte man von einer Suche nach einer neuen Identität und einer Suche nach einer nachhaltigen strategischen Positionierung der Universitäten in einer modernen Gesellschaft sprechen.

Wie in diesem Beitrag kurz skizziert, waren die Pädagogischen Hochschulen in den letzten Jahren ebenfalls mit einer ambitionierten Weiterentwicklungs­agenda konfrontiert. Im Rahmen von Ziel- und Leistungsplänen sprach man von der Möglichkeit der Weiter­entwicklung zu einer Pädagogischen Universität, von Internationalisierungsstrategien oder aber etwa von neuen Forschungsschwer­punkten, die auch im Bereich der Fachwissenschaften verankert sein sollen. Selbst intensive Überlegungen, dass Leistungen des Bundes­mini­steriums im Bereich Personal und Organisation (IT) durch dezentrale Serviceeinheiten („shared Service Center“) erbracht werden sollen, wurden angestellt. Nunmehr, nach Vorliegen der Gesetzesnovelle des Hochschulgesetztes 2005 scheint die Weiter­entwicklung der Pädagogischen Hochschulen als nachgeordnete Ein­richtung mit Berichtslegung gegenüber dem zuständigen Ministerium für die nächsten Jahre festgeschrieben zu sein.

Zahlreiche Stellungnahmen (Hochschulrat der PH Wien, AQ Austria, Vorsitzende der Hochschulräte der Pädagogischen Hochschulen) äußerten Kritik an der HG Novelle. Sie entspreche in keiner Weise international geltenden Standards einer zukunftsfähigen tertiären Einrichtung. Die fehlende Autonomie wurde als eines der Kernprobleme kritisiert. Insgesamt gebe es eine Regression auf Entwick­lungsstufen frühere Pädagogischer Akademien.

Wie auch immer, dieser Text ist ja nicht für Prognosen zuständig, aber dennoch bin ich davon überzeugt, dass in einigen Jahren der Weiterentwicklung der Pädagogischen Hochschulen das Staunen groß sein wird, wenn man sich daran erinnert, geglaubt zu haben, man könne eine tertiäre Bildungsinstitution in Form einer nachgeordneten Dienststelle führen. Die institutionelle Wende wird nur zu schaffen sein, wenn man einen möglichst differenzierten Zugang der indi­viduellen und institutionellen Autonomie (Loprieno, 2020, S. 37 ff) finden wird.

Literatur und Quellen:

Fuchs, P. (2009). Hierarchien unter Druck – ein Blick auf ihre Funktion und ihren Wandel. In R. Wetzel R., J. Aderhold & J. Rückert-Johnet (Hrsg.), Die Organisation in unruhigen Zeiten. Heidelberg: Carl Auer Verlag.

Baecker, D. (2003). Organisation und Management. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Loprieno, A. (2020). Die entzauberte Universität. Europäische Hochschulen zwischen lokaler Trägerschaft und globaler Wissenschaft. Wien: Passagen Verlag.

Luhmann, N. (1989). Politische Steuerung – eine Diskussion. Politische Vierteljahresschrift, 30, 4-9.

Oberneder, J. (2020). Zum Mythologem der Steuerung von Organisationen. In P. Reinbacher, J., Oberneder & A. Wesenauer (Hrsg.), Warum Komplexität nützlich ist. Wiesbaden: Springer.

Oberneder, J. (2016). Lehrerbildung neu: Erst handeln, dann denken. Userkommentar DerStandard. 10.1.2016.

Pausits, A. (2013). Der neu entdeckte Gesellschaftsauftrag der Universitäten – die dritte Mission als Aufforderung zur Veränderung. Zeitschrift für Hochschulrecht 12, 42-51.

Reinbacher, P. (2014). Kulturen und Spiralen des „Eigentlich“. Hierarchisch gesteuerte Veränderungsprozesse am Beispiel nachgelagerter Dienststellen des österreichischen Bundesministeriums für Bildung. Gruppendynamik und Organisationsberatung, 45, 291 – 304.

Reinbacher, P. (2017). Imitation oder Innovation? In: A. Pausits, R. Aichinger, M. Unger (Hrsg.), Quo Vadis Hochschule? Beiträge zur evidenzbasierte Hochschulentwicklung. Münster: Waxmann.

Willke, H. (2014). Regieren. Politische Steuerung komplexer Gesellschaften. Wiesbaden: Springer.

DerStandard (2017). Zehn Jahre Pädagogische Hochschulen: Liebe auf den zweiten Blick. Abrufbar unter https://www.derstandard.at/story/2000065375041/zehn-jahre-paedagogische-hochschulen-liebe-auf-den-zweiten-blick

Politik im Sog der Peinlichkeit

Österreich hat dieser Tage wieder ein neues politisches Kapitel aufgeschlagen: Die Wirtschaft- und Korruptionsstaatsanwaltschaft beschreibt auf 104 Seiten mutmaßliche Korruptionsvorgänge rund um den engeren Zirkel des Ex-Bundeskanzlers Sebastian Kurz. Es bestünde der dringende Verdacht, man hätte auf Kosten des österreichischen Steuerzahlers Umfragen manipuliert.

Nachdem die politische Bombe einschlug, war vorerst von einer demonstrativen Einheit zwischen Türkis und Grün die Rede. Man stehe zueinander, arbeite ja gut miteinander und man habe viel geschafft in den eineinhalb Jahren – besser als andere (natürlich). Während sich die Tweets im Sozialen Netz von „Game over“ bis „Das System Kurz ist am Ende“ überschlugen, ging die ÖVP mit ihren Landeshauptleuten in eine kontemplative Nachdenkrunde. Heinz Fischer beschreibt in einem Interview, quasi eine „Lehrstunde“ der politischen Bildung, dass derartige Vorgänge im Rahmen der üblichen politischen Maßstäbe in der zweiten Republik neu seien und es eine sehr ernste Situation sei. Die internationalen Meldungen überschlagen sich, sprechen von einem „Beschämenden Selbstverständnis“ (Süddeutsche Zeitung) und einem „House of Cards“ (La Stampa).

Der Runde Tisch des ORF wird unterbrochen, um den Herren Wöginger und Platter zu lauschen. Sie hätten sich nun, in der Türkisen Akademie beraten. Man stehe geschlossen hinter Sebastian Kurz – mantraartig findet diese Beschwörung mehrmals statt. Und außerdem drohe ja wieder eine neue Flüchtlingswelle. Man brauche da eine stabile Regierung. Am folgenden Tag darf August Wöginger den heiligen Vers abermals im ORF Morgenjournal platzieren: Die ÖVP gibt es nur mit Sebastian Kurz. Für das Lesen der 104 Seiten hätte er nicht Zeit gefunden, so Günther Platter in seinem Interview.  Der Offenbarungseid reiht die Loyalität zu einer Person vor die Verantwortung gegenüber der gewählten politischen Funktion und den damit verbunden moralischen Ansprüchen.

Werner Kogler spricht am folgenden Tag davon, dass der Kanzler nicht handlungsfähig sei. Dann geht alles schnell. Wir kennen den Verlauf: Kurz wird einstimmig zum ÖVP Klubobmann gewählt, Schallenberg wird Bundeskanzler und er wird eng mit Kurz zusammenarbeiten. Die Grünen sind glücklich. Die Opposition reflektiert die letzten Tage und spricht vom weiter aufrecht bestehenden „System Kurz“. Doskozil meldet sich wieder mal aus dem Burgenland.  Irgendwie alles peinlich 1.0.

Peinlich 2.0

Die Chat-Protokolle gaben uns also Einblick in diverse inhaltliche Zielsetzungen und in die moralischen Handlungsgrundlagen eines kleinen Zirkels, der scheinbar die politische Steuerung der Gesellschaft über die Ausübung von Macht und Korruption (selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung) definiert. Jenseits aller rechtlichen Fragestellungen, die es durch die Gerichte zu klären gilt, waren die Chat-Protokolle an Peinlichkeit kaum zu überbieten. In unseren zwischenmenschlichen Kontakten haben wir zwar gelernt mit Peinlichkeiten umzugehen, was aber geschieht mit uns, wenn wir plötzlich medial inszenierte Peinlichkeiten im Stundentakt vorgeführt bekommen?

Peinliches Verhalten überrascht uns plötzlich nicht mehr, unser Blick wird müde und irgendwie denkt man an Satire. Aber die Peinlichkeit ist nicht mehr rücknehmbar, wie der Soziologe Peter Fuchs so treffend äußert. Das Verhalten ist irreversibel, weil unterstellt werden kann, dass es als peinlich wahrgenommen worden ist. Im Inland und im Ausland.

Wie auch immer man nun all diese Vorgänge bewerten mag, in jedem Fall sehen wir derzeit Parteiapparate, die sich mit ihren Komplizen verbündet haben. Ziel scheint dabei zu sein, Ordnungen herzustellen, die manchmal schwer durchschaubar, aber wirksam im Effekt sind. Die Kulturtheoretikerin Gesa Ziemer spricht vom Komplizentum. Ja, von Prätorianern war sogar die Rede in einem veröffentlichten Chat. Die Muster sind dabei erstaunlich stabil und robust. Denn die reflexionslose frenetische Verbeugung vor einzelnen Personen in den politischen Parteien geht weiter. Personenkult, seltsam und besorgniserregend sowie medial unterstützt. 

Es gibt keine Zukunftsprognose. Die letzten Tage aber haben uns gelehrt, dass wohl einige Vertreter der Medien einen Moment in sich gehen könnten. Und sich jedenfalls überlegen sollten, ob neue „politische Wunderkinder“ beschrieben und hochgejubelt werden. Das wäre peinlich 2.0.

Das Risiko mit dem Virus – Aufruf zur Impfung

Viel wurde geschrieben, diskutiert und analysiert – im Lichte der Pandemie: von Virolog*innen, Epidemiolog*innen, Psycholog*innen, Soziolog*innen und Politiker*innen. Und all ihre Bemühungen hatten eines gemeinsam, nämlich die Suche und das Streben nach Normalisierung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Nach 18 Monaten „geschlossener Gesellschaft“, haben wir Sehnsucht nach Zufallsbegegnungen, nach sozialer Nähe, nach Lust am Reisen und einer „Rückeroberung“ unserer verlorenen Freiheit.

Wir alle haben die folgenschweren Auswirkungen der Pandemie zu spüren bekommen. Nun bereiten wir uns wieder vor – auf die 4. Welle. Wir wollen uns schützen und die Kurven abflachen, Ansteckungen verhindern und Menschenleben retten. So deutlich muss das einmal gesagt werden. Viele sind bereit einen Beitrag zu leisten. Regeln und Maßnahmen einzuhalten und die damit verbundenen Risiken einzuschätzen. Die Frage ist: Reicht die individuelle Freiheit und die damit verbundene Einschätzung des eigenen Risikos aus, um die gesamtgesellschaftliche Gefahr zu erkennen? Können wir uns in dieser Situation der Pandemie als Gesellschaft der sozialwissenschaftlichen Definition des Risikos bedienen, wonach Risiken individuell zurechenbar und zeitlich begrenzt sind? Und die Schadensfolgen der Entscheider über das eingegangene Risiko selbst trägt?

Jedes Verhalten, das andere nicht gefährdet, wird also zum Gegenstand des eigenen Risikokalküls, wie der Soziologe Dirk Baecker argumentiert. Und die Gesellschaft in einer liberalen Demokratie würde dafür sorgen, dass Gefahren ausgeschlossen werden, die jeden Einzelnen daran hindern könnten, diese eigenen Risiken einzugehen. Also jeden Bürger und jeder Bürgerin die Möglichkeit gibt, selbst zu entscheiden, ob sie eine Covid-Impfung in Anspruch nehmen oder nicht. Dies ist und bleibt ein wesentliches Grundrecht unserer Gesellschaft. Wie gehen wir aber als Gesellschaft damit um, wenn die Abschätzung des Risikos jedes Einzelnen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt? Wenn nichtgeimpfte Bürger*innen jene Gruppe von Menschen gefährden, die nicht geimpft werden können? Dann beginnt nämlich plötzlich das Risikokalkül jedes einzelnen Bürgers zur Gefahr für die Gesamtbevölkerung zu werden. Und so könnte der Aufruf mit einer Textzeile der Rockgruppe Silbermond enden: „Auch wenn um uns grad‘ alles wackelt und es Abstand braucht. Rücken wir die Herzen eng zusammen. Machen wir das Beste draus.“  Verringern wir das eigene Risiko und die Gefahr für uns alle – durch eine Impfung.

Österreich, wohin gehst du?

Der Artikel wurde als Gastkommentar im Magazin „The European“ am 20.8.2021 veröffentlicht. https://www.theeuropean.de/josef-oberneder/oh-du-mein-oesterreich/

Im „kontemplativen“ medialen Sommerloch merke ich mein Bedürfnis nach Reflexion politischer Geschehnisse in Österreich. „Oh, du mein Österreich! Da bist du ja wieder!“  titelt ein Text von Elfriede Jelinek aus dem Jahr 2018. Und sie hätte nicht gedacht, dass sie etwas sagen müsse, was sie schon einmal gesagt hätte, so die Nobelpreisträgerin in ihren Zeilen. Sie erhebt ihre Stimme und ruft zu einer Anti-Regierungs-Kundgebung auf, um dann mit den Zeilen zu enden: „Wir selbst wurden abgesagt, es folgt der Abgesang, und es folgt das, was die Öffentlichkeit froh als ihre Meinung ausgibt. Woher sie die wohl haben mag? Bitte schmeißen Sie dieses Papierl nicht weg, dort steht der Mistkübel, dort gehört es rein.“

Wie gesagt, da gibt es in mir eine Sehnsucht nach Reflexion des politischen Diskurses der Jetztzeit. Denken und schreiben helfen mir dabei – manchmal. Die Freiheit des Denkens hat etwas Stärkendes, etwas Belebendes, manchmal vielleicht auch etwas Apokalyptisches. So wurde auch ich in diesen Sommermonaten zurückgeworfen auf Beobachtungen von Skandalen und Skandälchen, die ich schon sah und die ich immer wieder sehe. Und von denen ich ebenfalls nicht gedacht hätte, dass ich wieder etwas sagen müsse, weil ich schon einmal was gesagt habe.

So geschah es etwa 2019 anlässlich der Einbringung eines Misstrauensantrages und der anschließend stattfindenden Neuwahlen in Österreich. Es sei Vorsicht angesagt, so damals meine Formulierung, wenn nach 525 Tagen voller Skandale („Süddeutsche Zeitung“) auf Seiten der politischen Parteien und deren Beobachter nicht die Chance ergriffen würde, grundsätzliche Antworten für hochkomplexe Fragestellungen (Klima, Soziales, Wirtschaft, Migration etc.) zu finden. In Anbetracht von politischen Verlogenheiten und permanenten Skandalen sei vor einer Art „eingelernten Hilflosigkeit“ der Politik dringend zu warnen.

Ein Video hatte also am 17. Mai 2019 unsere Alpenrepublik aufgerüttelt, den Sumpf der moralischen Korruption offengelegt. Der Aufschrei war lauwarm, aber er hatte jedenfalls den Anspruch für etwas Neues zu werben – für die Bekämpfung von Korruption in Österreich. Zwischenzeitlich hatte uns das „Corona-Virus“ fest im Griff. Nun, im Sommer 2021 ist es irgendwie bei einem medialen Plätschern geblieben. Vieles scheint vergessen zu sein. Die durchgeplante und inszenierte Regierungskommunikation („Message-Control“) funktioniert perfekt. Abgesehen von wenigen Zeitungen und Journalisten würden alle Medien in der Krisenkommunikation gehorsam mitspielen, wie die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak argumentiert. Die schmutzigen Geschäfte werden medial verharmlost und insbesondere von den Boulevardmedien mit den Worten „Es war eh schon immer so“ abgetan.

Oh, du mein Österreich! Sind wir wirklich so sprachlos, um das, was geschieht, kommentarlos zu sehen? Wo ist der Aufschrei? Findet dieser Aufschrei möglicherweise nur in den sozialen Medien statt? Ist es dort etwa leichter, wenn die Medienbeauftragten der Regierung beispielsweise kritische Universitätsprofessoren in der Twitter Community blockieren? Meidet man, oder fürchtet man den konstruktiven Diskurs?

Man muss ja nicht gleich den Niedergang der politischen Kultur an die Wand malen. Mahnende Beispiele würde man zwar finden. In Erinnerung darf aber schon gebracht werden: Der parlamentarische Untersuchungsausschuss (Ibiza-Untersuchungsausschuss) war aufschlussreich und hatte weitreichende Konsequenzen: Aufgrund einer Flut von „seltsamen“ Chatnachrichten mussten schließlich die Herren Thomas Schmid (Vorstand der Österreichischen Beteiligungs AG), Wolfgang Brandstetter (Verfassungsrichter) und Christian Pilnacek (Sektionschef) ihre Sessel räumen. Vieles wissen wir noch nicht und werden wir auch nie wissen. Jedenfalls müssen wir hoffnungsvoll in die Zukunft schauen – auch da wiederhole ich mich: Zwölf wichtige Proponentinnen und Proponenten haben in Österreich eine Initiative zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und gegen Korruption ins Leben gerufen. Die dringende Forderung nach Pressefreiheit in dieser Initiative ist an Aktualität aufgrund der stattgefundenen ORF-Wahl zum Generaldirektor kaum zu überbieten.

Oh, du mein Österreich! Ja, wir passen uns manchmal an, sind leise, aber wir melden uns auch zu Wort. Immer mit dem Anspruch für ein respektvolles demokratisches Miteinander.